Von einem, der auszog das Sprechen zu lernen,
aber dann….
Es war einmal ein kleiner Junge.
Dieser Junge hieß Heinrich und der lebte in einem kleinen beschaulichen Städtchen.
Heinrich war ein sehr aufgewecktes Bürschlein und ging artig zur Schule und brachte viele gute Noten nach Hause. Hin und wieder auch mal eine zwei, aber nicht sehr oft. Lieber Einsen.
Heinrichs Eltern mochten das mit den Noten sehr gerne und so verlebten sie viele gute Tage.
Eines Tages ging es in der Schule um ein Wort, das hatte Heinrich noch nie gehört.
Das Wort hieß „De-mo-kra-tie“.
Der Lehrer sagte: „Heinrich! Du lebst in einer Demokratie. Weißt du, was das bedeutet?“
Heinrich sagte: „Nein, Herr Lehrer. Aber ich bin mir sicher, und ich hoffe sehr, dass sie mir das in Kürze gütigst erklären werden. Denn ich bin ein sehr aufgewecktes und wissbegieriges Bürschlein!“
Der Lehrer sagte: „Nun gut liebe Kinder, dann spitzt mal die Ohren, nehmt euch die Feder zur Hand, öffnet das Tintenfässchen und los gehts:
In der Demokratie ist das so, dass die Gewalt vom Volke ausgeht.
Das bedeutet, die Menschen haben ein Mitspracherecht, über alles, was in diesem Land geschehen und nicht geschehen soll.“
Das fand das Bürschlein doch höchst interessant. Ganz gerade saß es da plötzlich in der Holzbank unter dem Lehrerpult und schaute nach oben und fragte:
„Herr Lehrer, Herr Lehrer, das finde ich ja höchst interessant. Aber wie funktioniert….“
„Heinrich!“, sprach der Lehrer. „Wirst du mich wohl nicht unterbrechen. Und wenn du eine Meinung abzusondern hast, dann melde dich, und ich werde entscheiden, ob es an der Zeit ist, sie zu hören.“
Und der Lehrer redete und redete und Heinrich hörte zu.
Aber Heinrich war ein sehr aufgewecktes und wissbegieriges Bürschlein und so vergaß er nicht, dass er eigentlich noch etwas fragen wollte.
Der Tag zog sich zäh und dick wie Kartoffelbrei durch das stickige Klassenzimmer, … bis die Schulglocke ging.
Alle Kinder rannten schnell aus dem Schulhaus und spielten draußen fröhlich miteinander in den blühenden Wiesen des kleinen beschaulichen Städtchens.
Nur Heinrich nicht.
Der schlurfte nach Hause.
Ganz gebeugt und traurig sah er aus dabei.
Er ging nach Hause zu seinen Mamas und sagte:
„Mama, Mama….liebe Frau Mama, wir haben heute Demokratie durchgenommen, und der Lehrer hat gesagt, dass alle ein Mitspracherecht haben, stimmt das?“
„Ja, Heinrich, das stimmt“ sagte die Mama.
„Aber dann wollte ich etwas fragen, und dann durfte ich das nicht. Das passt doch gar nicht zusammen.“
Die Mama sagte: „Ja, das leuchtet mir ein. Vielleicht kannst du dich beschweren?“
„Aber Mama, das geht doch nicht. Nachher krieg ich noch eine schlechte Note. Wie zum Beispiel eine drei, oder … um Gottes Willen … eine vier!“
„Heinrich!“, sprach die Frau Mama. „Du gehst morgen da hin, und du sagst deine Meinung, und du wirst sehen, wir leben in einer Demokratie, und alle werden deine Meinung schätzen, und du wirst lernen dich zu artikulieren. Auf der Stelle!“
Da ging Heinrich erschöpft und verwirrt ins Bett und tat bis zum frühen Hahnenkrähen nicht eines seiner beiden Äuglein zu.
Morgens ging er ganz aufgeregt in die Schule.
Und er traute sich und sagte seine Meinung und er bekam eine sechs wegen Frechheit und musste überdies auch noch zum Schulführer…äh Schulleiter.
Heinrich lernte: ganz so einfach ist das mit dem Mitspracherecht eben nicht.
Man muss sich das Mitsprechen auch in der Demokratie dann doch meist erlauben lassen.
Die Jahre gingen ins Land, und Heinrich war weiterhin ein sehr aufgewecktes und wissbegieriges Bürschlein. Aber es hatte sich doch ein schwacher Schatten hinter seine Augen geschlichen.
Wenn du nicht genau hinschautest, dann war er kaum zu bemerken.
Doch an hellen Sonnentagen und wenn du ganz genau beobachtet hast, dann konntest du sie sehen: die Skepsis hinter seinen Augen.
Heinrich wurde zu einem sehr aufgeweckten und wissbegierigen jungen Mann.
Mit seinem Körper wuchsen nicht nur plötzlich überall Haare, sondern auch die Skepsis fand ständig guten Nährboden.
Sie konnte sich nähren auf dem ersten Behördengang, oder in der Kirche, ja selbst in der so lustig daherfahrenden Bimmelbahn des kleinen beschaulichen Städtchens – überall wusste die kleine Stimme in seinem Kopf Fragen zu stellen – und Heinrich begann diese Stimme zu mögen.
Sie gab ihm das Gefühl, ein eigenständiger Mensch zu sein.
In dem kleinen beschaulichen Städtchen war es für die erwachsenen Skeptischen – so nannte man diejenigen mit diesen fragenden Stimmen im Kopf – da war es also für die Skeptischen üblich, die Meinung zu sagen.
Das war für sie ein großer Wert, dieses sagen der eigenen Meinung.
Und ihr könnt euch vorstellen, wie das dem Heinrich gefiel.
Es gab manchmal ganze Versammlungen auf der Straße, wo die Leute auf der Fahrbahn liefen (die ja normalerweise eigentlich für die Adligen mit den großen Kutschen gedacht war):
und sie sagten ihre Meinung. Frei und ohne Angst. Und sie sagten sie laut und sie sagten sie leise, und sie sagten sie wütend und aber auch mal ganz lustig.
Da lief der Heinrich fröhlich hin und rief:
„Heda, ihr Skeptischen, ich will bei euch mitmachen!“
Und die Skeptischen lachten und schwenkten ihre Schirmmützen und sagten:
„Heda, aufgeweckter, wissbegieriger junger Mann. Na klar, komm ran aufn Meter und sag mit uns deine Meinung in dieses kleine beschauliche Städtchen hinein. Das ist verdammich nochmal dein Recht. Lass dir das nicht nehmen – auch nicht von denen da.“
Und Heinrich wunderte sich und fragte sich wen sie wohl meinen könnten.
Aber ach, da war es schon zu spät.
Aus einer Seitenstraße kamen große, gleichgekleidete Leute mit Stöcken und sie schlugen mit den Stöcken auf die Skeptischen ein.
Und Heinrich war ganz erschrocken und zwischen den Schlägen da schrie er:
„Aber halt, liebe große, gleichgekleidete Leute mit den Stöcken, haltet ein. Warum schlagt ihr so auf uns Skeptische hernieder?!“
„Halts Maul. Geh aus dem Weg oder ich nehme dich mit“, sagte eines der großen gleichgekleideten Leute mit einem Stock.
„Aber wohin denn mitnehmen? Und wieso? Wir haben doch das Recht hier unsere Meinung in das kleine beschauliche Städtchen hineinzusagen oder nicht?“, und er hatte etwas Angst, aber er war auch ein bisschen stolz, dass er nun inzwischen so ganz skeptisch Fragen stellen konnte.
Da nahmen ihn die großen, gleichgekleideten Leute mit den Stöcken mit und sagten:
„Das hast du dir nun selbst eingebrockt. Wer mit den Skeptischen verkehrt, der weiß nie, ob da nicht auch Terroristen sich untermischen. Und nun müssen wir sagen, weil du standest und Fragen gestellt hast, anstatt weg zu gehen, glauben wir zu wissen, dass du vlt auch einer von den Terroristen bist. Aber das wird sich vor Gericht ja herausstellen.“
Da bekam es der Heinrich so richtig mit der Angst zu tun.
Gericht?, dachte er bei sich. Na das kann ja was werden.
Eine sechs hast du schon in der Akte, jetzt kommen als nächstes die schwedischen Gardinen?
Also ein Demokrat zu sein, und die Meinung zu sagen, das ist schon sehr schwierig in der Demokratie.
Als Heinrich mit ein paar blauen Flecken die Wachstube der großen, gleichgekleideten Leute mit den Stöcken verließ, da staunte er nicht schlecht.
Da standen viele der Skeptischen und die lachten und schwenkten ihre Schirmmützen und riefen:
„Heda, aufgeweckter, wissbegieriger junger Mann, hier nimm doch erstmal einen Kaffee und denn aber mal zackig ab zum Anwalt. Hier hast du ein paar Gulden, die haben wir gesammelt, das sollte reichen, dass der Anwalt mit dir redet.“
Und da lief der Heinrich! Seine Füße trugen ihn über das Kopfsteinpflaster, und er lief und er lief,…
Und wie er so lief überkam ihn eine Freude. Sich so frei über das Pflaster zu fliegen, das ist schon was schönes. Heinrich merkte: Nein, die schwedischen Gardinen….die sollten es nun nicht sein.
Und so saß er dann beim Anwalt.
Der Anwalt saß lässig in einem Lehnstuhl, kaute auf seinem Federkiel herum und wühlte sich durch einen Stapel Papier. Und er sagte so Sachen wie „Mmmh!“, oder „Uiuiui!“, oder auch mal „Du meine Güte!“ So lange bis es Heinrich nicht mehr aushielt, und Heinrich rief:
„Heda, Anwalt, nun sprich! Was wird denn jetzt aus mir?“
Der Anwalt setzte an und sagte „Mmmh, (und Heinrich wäre fast explodiert) also das ist ja eine ganz schwierige Sache.“
Und das Herz rutschte Heinrich in die Hose.
„Heinrich, weißt du“, fuhr der Anwalt fort, „ob du etwas getan hast oder nicht, das ist hier gar nicht die Frage. Die Frage ist, wem geglaubt werden wird. Und ich muss dir aus Erfahrung leider sagen, geglaubt wird meistens den großen, gleichgekleideten Leuten mit den Stöcken.
(Quelle einfügen) „
Heinrich sagte: „Das ist ja seltsam, sind denn vor Gericht die Menschen nicht alle gleich? Es waren doch ganz viele andere da, die haben noch kurz vorher lustig mit ihren Schirmmützen geschwenkt und ihre Meinung in das kleine beschauliche Städtchen hineingesagt. Die sagen bestimmt dem Gericht wie es war.“
Da blickte der Anwalt traurig auf seinen Tisch und sagte: „Ja, so steht es im Gesetz. Aber weißt du, die großen, gleichgekleideten Leute mit den Stöcken, die machen das ja auch nicht zum ersten Mal und die sprechen sich sehr gut ab. (Quelle) Und wenn die gewinnen im Prozess, und das tun sie eben meistens, dann sind sie im Recht. Und, Heinrich, weißt du was sie dann machen, wenn das hohe Gericht sagt, das sie im Recht sind?“
Heinrich schaute ihn weiterhin fragend an, denn es war klar, dass diese Frage rein rethorischer Natur gewesen war und Heinrich war ein bisschen genervt über diese seltsam väterliche Art, mit der der Anwalt ihn so belehrte.
„Sie zeigen deine Zeugen wegen Falschaussage an. (Quelle) Das können sie machen, denn das Gericht hat ja vorher offiziell bestätigt, dass sie gelogen haben müssen, weil die großen, gleichgekleideten Leute mit den Stöcken ja Recht bekommen haben … also, du siehst wohin das führt?“
„Ja, ich verstehe das, ich bin ja nicht blöd“, sagte Heinrich wütend, vlt auf den Anwalt, vlt auf die ganze Situation, er wusste es selber nicht so genau.
„Ich bin jetzt also ganz alleine, ja? Das haben die sich ja hübsch ausgedacht, einfach immer alle hinterher anzuzeigen, dass man dann ganz allein ist und sich nicht traut die Leute dann zum reden zu fragen. Jetzt hab ich aber eine Stinkewut. Was machen ich denn jetzt? Ich selber sag denen einfach wie´s war, oder können die mich dann auch wegen Falsch…“
„Mmmh,“ sagte der Anwalt, und Heinrich hätte sich am liebsten ein Kienspan genommen und ihn sich ins Auge gerammt angesichts dieser unseligen Ruhe des geschulten Anwalts.
„Mmmh, also das würde ich an deiner Stelle lassen. Das birgt ja immer die Gefahr, dass du dich selbst belastest. Und das kommt dann einem Geständnis gleich. Und du ahnst gar nicht, was schon alles als Geständnis….“
„ABER WAS DENN DANN!?“, schrie Heinrich und gleichzeitig tat es ihm leid, denn der Anwalt versuchte ja wirklich nur, ihm zu helfen und konnte ja schließlich auch nichts für die ganze Situation.
„Ich werde versuchen, zu beweisen, dass die großen, gleichgekleideten Leute mit den Stöcken falsch liegen, nur anhand von diesem Stapel Papier.
„Ach, sowas kannst du?“, fragt Heinrich ganz aufgeweckt und wissbegierig.
„Mmmh,“ sagte der Anwalt, „ich sag dir gleich, ohne Strafe kommst du da nicht weg. Wir müssen uns einstellen darauf, dass wir per Handschlag Vereinbarungen treffen müssen.“
„Strafe….puh…was denn für eine Strafe?“
„Das kommt drauf an. Die großen, gleichgekleideten Leute mit den Stöcken werden vermutlich sagen, dass du sie hochgefährlich angegriffen und in höchste Not und Gefahr gebracht hast, und sie nur knapp mit dem Leben davongekommen sind und auch überhaupt damit rechnen, dass du deine lieben langen Tage mit solcherlei Tätigkeiten verbringst, und selbst wenn noch nicht Aktenkundig, du durchaus Stadtbekannt bist für diese Art Zeitvertreib und sie werden sich gegenseitig als Zeugen aufrufen und…“
„GENUG! Sie machen mir ja eine Heidenangst!
Ich sie angegriff…
Das sind doch die groß…
Schaun sie mich doch mal…
Wie soll ich…
Sie in höchste Not und …“
„Entschuldige. Ich werd sehn was sich machen lässt. Ich fahr jetzt erstmal in den Urlaub und dann schauen wir weiter ja? Das ist ja noch ein bisschen hin.“
Ganz schwindelig war dem Heinrich und er lief rastlos durch die Stadt und er traf zufällig ein paar der Skeptischen mit den Schirmmützen, die nun gar nicht mehr fröhlich lachend „Heda!“ riefen. Nein, sie schauten ganz ernst drein und sie wussten wovon der Heinrich da redete, denn sie hatten das zumeist ja selber schon erlebt.
Zusammen besorgten sie sich ein großes Stück Stoff, ein paar Pinsel und etwas Farbe.
Auf das Stück Stoff schrieben sie die Frage:
„Wie kannst du entscheiden, wenn du gar nicht alle Seiten kennst?“
Am Tag des großen Prozesses brachten sie die Frage auf dem Stück Stoff mit, denn zum reden getraute sich niemand. Aber aufhängen durften sie es nicht im großen Gerichtssaal.
Denn im Gerichtssaal muss eine andächtige und ehrfürchtige Stimmung sein, damit die Angeklagten auch schön es mit der Angst zu tun bekommen, wenn sie draußen wieder auf die Idee kommen sollten, ihre Meinung in das schöne beschauliche Städtchen hineinzusagen.
Heinrich nahm sich an diesem Tag zwei Sachen vor, egal was dieser Prozess bringen sollte.
Erstens: Das Meinung in das beschauliche Städtchen hineinzusagen muss man weitermachen, auch wenn sie einem versuchen die Angst in den Nacken zu pflanzen. Sonst bleibt alles wie es ist, und so wie es ist soll es nicht bleiben. Und wird es sowieso auch nicht.
Zweitens: Heinrich würde keinen Handschlag nicht drauf geben, dass er seine eigene Strafe abnickt.
Wenn sie urteilen, ohne zu wissen was geschah, weil sie einem so mit der Strafe drohen wenn man´s sagt, dann sind das nicht die Regeln, wo der Heinrich einen Handschlag drauf geben kann. Dann müssen sie das selber machen. Auch wenns das am Ende vielleicht schlimmer macht. Im Ganzen muss der Heinrich nämlich gesund bleiben, mit seiner fragenden Stimme im Kopf.
Und da seid euch sicher: Ob mit Strafe oder ohne…seinen fragenden Kopf…ja den ….den hat er heile aus der Nummer herausbekommen.
„Heda, ihr Skeptischen!“, rief Heinrich einige Zeit später. „Danke, dass ihr an meiner Seite wart. Und das ihr mit mir Fragen gefragt habt…und das ihr mit mir zusammen die Meinung in das beschauliche Städtchen hineingesagt habt…und auch das mit dem Pinsel und der Farbe.
Ich weiß gar nicht was ich sagen soll….Ich weiß jetzt, dass ich mich auf die großen, gleichgekleideten Leute mit den Stöcken nicht verlassen kann. Und auf gerechte Prozesse nicht zu hoffen brauche….Ich will auf jeden Fall meine Meinung weiter sagen und auch viel tun, dass sich was ändert, weil…“
Da lachten die Skeptischen wieder, und schwenkten ihre Schirmmützen, und freuten sich.
Aber hinter den Augen der Skeptischen, wenn du ganz genau hinschautest, da konntest du ihn wieder entdecken, diesen Schatten:
eine Traurigkeit, über diejenigen, die fehlten – die grad nicht mitlachen und mitschwenken konnten. Über diejenigen, die allein und eingesperrt waren.
Jaja…, es gab noch sehr viel Meinung zum Sagen und sehr viel Taten zum tun…
Aber wenn sie sie sagten, und wenn sie sie taten, dann fühlten sie sich lebendig und wussten es würde sich etwas ändern…